Wer fährt da so früh durch Dorf und Wind? Es ist der Erl-König – ohne ein Kind. Sicher hat er dieses und etwaige weitere Kinder bei seiner jetzigen Holden verwahrt. Es ist kein Pferd, mit dem der Erl-König sein Dorf durchstreift, sondern ein Motorrad. Wie immer wehen seine mittlerweile weißen Haare im Fahrtwind. Den dankbaren und angesichts der Königs-Sichtung euphorischen Dorfbewohnern winkt er freundlich zu. Der Erl-König ist volksnah und kennt seine Bewohner allesamt persönlich. Unter den gerufenen Namen befinden sich erstaunlich viele weibliche Namen.
Alles könnte also sehr schön sein. Doch der Erl-König wird in letzter Zeit immer trauriger. Mit strenger Hand führt der Dorf-Monarch sein Regiment und seine ihm untergebenen Soldaten. Er erwartet sich Gehorsam und die genau Kenntnis seiner Gesetze. Doch die Zahl derer, die zum Bildungspöbel zu zählen sind, ist zuletzt stark angestiegen. Der musikliebende Sonnenkönig musste vor kurzem gar mit ansehen, wie sich dieser Pöbel unter den von ihm so gehegten und gepflegten Geld-Adel mischte. Mit fatalen Folgen. Der Pöbel klatschte zwischen den Sätzen der Symphonie und trank in den Pausen Bier aus Flaschen anstatt Schaumwein aus formschönen Champagner-Gläsern. Das waren die subversiven Elemente, die seine Alleinherrschaft in Frage stellten.
Zuletzt ertappte sich der allseits beliebte und an sich lebensfrohe Erl-König dabei seine großzügig geschnittenen Gemächer nicht mehr verlassen zu wollen. Anstatt mit seiner geliebten Maschine durch den Ort zu fahren blieb er zuhause, plantsche im Pool und hörte Richard Wagner. Doch selbst dieser alte Meister, der in ihm ansonsten stets Euphorie-Gefühle entfacht hatte, ließ ihn seltsam unberührt. Auch für Frauen, ansonsten willkommene Ablenkung bei anhaltenden Stimmungstiefs, konnte er sich gegenwärtig nicht erwärmen. Er fühlte sich zum ersten Mal alt. Der Erl-König war nicht nur traurig, sondern tieftraurig geworden.
Nach Wochen der anhaltenden Traurigkeit fasste er einen Entschluss. Er würde sein Königreich und sein Volk hinter sich lassen. Eines Nachts wollte er sich einfach wegschleichen, nicht viel mehr als seine liebsten Schallplatten im Gepäck. Er würde eine andere Heimat finden und sich selbst genug sein. In einem einzelnen Zimmer würde er seine geliebten Komponisten hören. Ganz tief, ganz neu, intensiver als je zuvor. Sanft das imaginäre Orchester in seiner neuen Wohnung dirigierend würde ihn bald nichts mehr an seine Vergangenheit erinnern.
In der Nacht nach dem Tag an dem er diesen Entschluss gefasst hatte schlief er gut und träumte glücklich. Er sah sich befreit von Geld-Adel und Bildungspöbel. Er hatte nichts mehr mit dem Geld-Adel zu tun, der Musik nur als Beiwerk zur eigenen Inszenierung und als Distinktionsgewinn ansah. Der ihm verhasste Bildungspöbel, der von Kunst erst gar nichts verstand, sondern jederzeit den Besuch einer Imbissbude dem Konzert-Genuss vorgezogen hätte, war ebenfalls kein Thema mehr.
In seinem Traum stand er auf einer Wiese, welche der Wiese vor seinem einstigen weißen Palast bis auf den letzten Grashalm glich. Doch der Palast war verschwunden. Er hatte die Musik seines Lieblingskomponisten im Ohr. Er atmete tief ein. Und war etwas, das er schon lange nicht mehr gewesen war: Glücklich.
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