„Ich hab´s dir ja gesagt, Heinrich. Wir hätten ganz am Rand sitzen sollen. Dann könnten wir jetzt gehen.“ Seit den ersten Tönen der gerade gespielten Symphonie haben sich auch die sonstigen Gesichter verzogen und verfinstert. Es sind Gesichter von alten Menschen, die schon viel erlebt, viel gesehen und viel gehört haben.
Eine Vermutung läge somit nahe. Solche Menschen haben, dank fortgeschrittenem Alter, nun wirklich keine Zeit mehr um sie zu vergeuden. Und doch tun sie es. Im Alter scheint der Drang zu Gewissheiten, zu klaren Strukturen und zu Altbekanntem noch größer als sonst zu sein. Man will wiederhören, was man bereits kennt. Man will erkennen, was man hört. Man möchte sich gut zurechtfinden in Kunstwerken, die man mit seinen bisherigen Mitteln und dem bis dahin erlangten Wissen bestens entschlüsseln kann.
Ich habe jetzt schon, obwohl noch keine vierzig Jahre alt, keine Zeit mehr um sie zu verschwenden. Vor allem ist mir meine Zeit zu schade, mich mit Intoleranten zu umgeben. Sobald es bei Konzerte in harmonisch etwas freies Gewässer geht, wird rundherum gemurrt. Ganz so als ob diese Freiheit und diese Abenteuerlust etwas Schlechtes wären. Die Intoleranten wiegen sich lieber im Walzertakt, streben nach dem wiederholten Wiederhören ihrer Melodien und Motive.
Das kann man, nett und euphemistisch ausgedrückt, als nostalgische Verklärung bezeichnen. Womöglich aber auch als neues Biedermeier. Draußen wartet die komplexe und unübersichtliche Welt. Da wollen wir zumindest unsere Kunst und unsere Musik heimelig und nachvollziehbar haben.
Nun könnte man diesen Intoleranten, die es nebenbei erwähnt nicht nur in besagter Zielgruppe sondern in jeder Altersgruppe gibt, ihren Geschmack ganz einfach lassen. Doch durch ihre Vorherrschaft passiert etwas mit der Kunst und der Musik im Alltag. Sie wird isoliert. Isoliert von der Welt, von deren Komplexität und von deren Wandlungen. Musik ist bei der daran hängenden Ästhetik im besten Fall fix und fertig. Ein abgeschlossenes Werk wird über die Jahre immer gleich kredenzt. Das führt zur Diktatur des Immergleichen und Vorhersehbaren.
Die Intoleranten vermiesen den Toleranten und Offenen die Konzerte. In den ansprechendsten und interessantesten Passagen wird zum Teil laut geredet und Unmut zum Ausdruck gebracht. Ganz so, als ob sie ständig, überall und jederzeit die Grenzen der eigenen Hörgewohnheiten narrativ den interessierten Zuhörern aufzwingen müssten. Sie sind der lautstarke Teil des Publikums, der Störungen verursacht indem er Störungen und Irritationen in der Musik vehement ablehnt.
Mittlerweile bin ich sicher. Wir müssen den Intoleranten mit Intoleranz begegnen und ihnen ihr Verhalten vorhalten. Nicht in den freien, komplexen und wagemutigen Konzert-Passagen müssen wir murren, sondern in den allzu vorhersehbaren und abgekarteten. Wir müssen unsere Gesichter verziehen, wenn abgedroschene Motive wiederkehren. Wir müssen ihnen ihr eigenes Vorgehen klar machen und Gleiches mit Gleichem vergelten. Wir müssen aufhören das Brave und Angepasste brav und angepasst über uns ergehen zu lassen. Wir müssen zurückschlagen.
Im besten Fall würde dann ein Dialog zwischen den verschiedenen Interessen und Ansichten entstehen. Und eine Erkenntnis. Beide Aspekte gehören in der Kunst zusammen und sind untrennbar miteinander verbunden und verbandelt. Kein Mensch kommt völlig ohne Gewissheiten und ohne Wiedererkennung in der Kunst und in der Musik aus. Sucht man aber ausschließlich nur danach, dann hat man das neugierige und aktive Musik-hören verlernt oder noch gar nie gelernt. Man hört nicht, sondern sucht nach dem, was man bereits gehört hat.
Man darf und muss zuhören. Man darf und muss zwischendurch die Orientierung verlieren. Das hält die Kunst lebendig und das hält einen auch als Zuhörer lebendig und offen.
Titelbild: (c) Kate Wagner, flickr.com