Ich weiß noch recht genau, wann es begann. Es war in einem Münchner Plattenladen. Dieser ist an sich vor allem auf Jazz und klassische Musik spezialisiert. Neuerdings gab es dort aber auch ein paar Regale, die sich der Popmusik widmeten. Verstohlen schlich ich mich von der „Avantgarde-Jazz“ Ecke, vornehmlich von älteren Herren mit Hornbrillen bevölkert, in die „Pop-Abteilung“. Nun muss man wissen, dass dieser Plattenladen die Besonderheit hat, dass jede Unterabteilung mit der jeweils passenden Musik beschallt wird. Wer mag kann sich von freiem Jazz hin zu klassischer Musik bewegen.
Meine Liebe zu modernem Jazz und zu wagemutigen Neuinterpretationen von großen klassischen Werken ist bis zum heutigen Tage ungetrübt. Doch zu diesem Zeitpunkt erschien mir meine Grenzüberschreitung hin zum „Pop“ wie ein Befreiungsschlag. Nicht komplexe Harmonien und abgedrehten Skalen herrschten jenseits dieser Grenze vor. Aber es lag eine Unmittelbarkeit und eine Kraft in der Musik, die mich augenblicklich berührte.
Sofort kamen Erinnerungen in mir hoch. Ich war nicht immer so gewesen. Nicht immer hatte ich es mir in Nischen bequem gemacht und nicht immer hatte ich Konzerte besucht, die über die 100 Besucher-Grenzen nur allzu selten hinaus kamen. Damals war ich Fan vor allem von zwei Semi-Superstars: Beck und Björk. Beiden war experimentierfreudig und sprachen dennoch eine breitere Masse an. Letztere füllt nach wie vor große Hallen.
Ausgehend von diesen hatte ich mich immer mehr in Richtung „Avantgarde“ bewegt. Plötzlich wusste ich, dass das eine Sackgasse war. Ich hatte die Funktion dieser Spielarten verkannt. Die avancierten Spielarten und die harmonisch und strukturell komplexeren Kompositionen jenseits des sogenannten „Mainstreams“ waren zum Selbstzweck geworden. So ist der Endpunkt schnell erreicht. Immer komplex und harmonisch immer gefinkelter wird zum Dogma.
Bei Björk war das anders. Sie nutzte avantgardistische Strömungen zu ihrem Vorteil. Sie war stets am Puls der Zeit, wenn es um Neuerungen in der elektronischen Musik ging und auch der Jazz als Haltung war ihr nie fremd. Sie verband all das aber mit einer enormen Pop-Sensibilität und hatte die Gabe großartige Pop-Songs der etwas anderen Art zu schreiben.
Denn es ist nicht egal was wir hören. Der Mainstream darf nicht ahnungslosen Dilettanten überlassen werden. Mittel, Harmonien und Ideen aus der „Avantgarde“ müssen verstärkt in massentauglicher Musik Einzug halten. Wenn sich technisch avancierte Spielarten in Nischen zurückziehen und sich weiterhin damit begnügen zwanzig Leute bei kleinen Konzerten zu unterhalten dann ist das ein Problem.
Früher war das anders. Die Kluft klaffte weit weniger tief. Es gab nicht einerseits die wenig beachtete „Avantgarde“ und die unterkomplexe und reichlich uninteressante „Popmusik“ andererseits. Es gab viele Durchlässigkeiten. Bands wie die Beatles oder die späten Beach Boys hatten ihre Hausaufgaben gemacht und wussten, was jenseits der Pop-Grenze gespielt wurde. Sie machten sich Mittel aus anderen Spielarten zunutze und hatten sowohl Verständnis für Jazz als auch für klassische Musik. Damit weiteten sie das, was man damals unter Popmusik verstand.
Dieser Rahmen hat sich, so scheint es, in den letzten Jahrzehnten wieder verengt. Die Kluft hat sich vergrößert. Unter der Wahrnehmungsschwelle einer breiteren Öffentlichkeit tüftelt und experimentiert man weiterhin. An der Oberfläche, forciert durch große Radiosender und Massenmedien, existiert höchst austauschbare Popmusik ohne jedwedes Interesse an einer Erweiterung ihrer eigenen Möglichkeiten.
Allein deshalb lohnt schon die Grenzüberschreitung hin zur oftmals geschmähten Popmusik. Popmusik ist lediglich das Bekenntnis eine größere Masse ansprechen zu wollen. Sich nicht damit zu begnügen vor kleinem und immer kleinerem Publikum spielen zu wollen. Popmusik ist nicht dezidiert das Bekenntnis zu Banalität, Oberflächlichkeit und musikalischer Enge.
Es muss sich etwas bewegen. Das musste ich spätestens einsehen, als ich damals nun vor knapp 2 Jahren die unsichtbaren Grenzen in besagtem Münchner Plattenladen überschritt. Die Klüfte müssen überwunden werden. Sonst wird die Popmusik immer seichter und die Avantgarde immer unbeachteter. Aber es gibt Hoffnung. Einzelne Bands und Acts zeigen, dass es möglich ist. Gerne würde ich in Zukunft sagen können, dass ich die Musik eines Superstars liebe.
Hier geht es zur vorherigen Folge von "Kleingeist und Größenwahn".