Die Zeiten ändern sich. Früher schlief man in Zelten und hatte eine diebische und aufrichtige Freude, wenn der Sänger der Rockband „Art Brut“ in Sichtweite beim eigenen versifften Zelt vorbei schlenderte. Von Hotelzimmern, Bundeskanzlern und Jazz fehlte hingegen noch jede Spur. Den „Helga-Rufen“ sind über die Zeit leicht verkaterte Frühstücksgespräche über die besten Saxophon-Soli der letzten Jahrzehnte gewichten.
Man hat sich nicht nur verändert. Man hat die Seiten gewechselt. War einst billiges und doch überteuertes Bier Hauptnahrungsmittel, so schlürft man heute Cocktails im VIP-Bereich eines Jazzfestivals. Das Publikum dort ist etwas ergraut und, trotz teilweise durchaus vorhandener Betrunkenheit, überaus diszipliniert. Lauthals gebrüllt wird nicht. Man unterhält sich gesittet und bildungsbeflissen beispielsweise über die neusten ECM-Veröffentlichungen.
Die schleichende Veränderung über die Jahre wird manifest, wenn nicht irgendein schmieriger Moderator oder Event-Manager das dreitägige Besäufnis freigibt, sondern der Bundeskanzler himself. Er spricht von der tollen Leistung der Helfer, die nach den Unwettern in der Region selbstverständlich zur Stelle waren. Danach wird er witzig und möchte unter Beweis stellen, dass er Musik sehr schätzt. Schließlich eröffnet er hier ein Jazzfestival. Sehr erfreut zeigte er sich, dass zwei seiner Lieblingsbands bereits am Eröffnungsabend zu hören seien. Welche das sind verrät der Bundeskanzler aber nicht.
Wenig später stolziert der Ex-ÖBB-Chef direkt an einem vorbei. Kurz will man ihn fragen, warum er mit einem Bus durch Österreich reist und nicht auf die Bahn setzt. Man lässt es sein. Schließlich wartet schon ein perfekt gekühltes Bier zur freien Entnahme auf einen. Der Kanzler mischt sich nicht unters Volk. Zu viel Nähe zum „Volk“, selbst wenn es wie hier vornehmlich aus Journalisten, Betuchten und geladenen Gästen besteht, tut niemandem gut. Ob sich der Herr Kanzler anderswo unters Publikum mischte oder gar abtanzte entzieht sich meiner Kenntnis.
Nach ein paar Freigetränken wird man langsam müde. Man ertappt sich dabei manchmal bei leiseren Passagen ein wenig einzunicken. Die Begleitung weist einen mit einem leichten Rempeln dezent darauf hin. Wenige Minuten später ist es schon wieder so weit. Die Begleitung hat offenbar kapituliert und gönnt einem ein paar Minuten Power-Napping. Schließlich ist man danach wieder ausgeruht, voll aufnahmefähig und wieder in der Lage komplexe Musik journalistisch punktgenau zu beschreiben und zu analysieren. Außerdem muss man ständig auf die Frage „Wie hat es dir gefallen“ gefasst sein und muss eine kluge Antwort auf diese Frage aller Fragen parat haben.
Insgesamt hält man sich fit. Trinkt vernünftig und verantwortungsbewusst. Schläft zu späten Nachtstunden. Man sitzt bereits am ersten Tag nach dem Festival frisch und munter vor dem Laptop und verfasst Rezensionen des Festivals und diesen Kommentar. Vor zehn Jahren hätte man am Tag darauf aufgrund des Restalkohols noch nicht einmal die Finger richtig koordiniert auf die Tastatur bringen können. Vermutlich hätte sich diese problematische Situation aber erst gar nicht ergeben, weil man ohnehin noch geschlafen hätte.
Welche Spuren hat das Festival der letzten Tage also hinterlassen? Körperlich gesehen: Absolut keine. Intellektuell betrachtet: Das Erleben einiger grandioser Acts, allem voran „The Necks“ oder „5K HD“. Ich sehne mich nicht zurück in die alte Zeit. Zelte sind unbequem, zu viel Alkohol macht unkreativ – und auch die Musik ist heute besser.
Dennoch: Gerne würde ich manchmal wieder die aufrichtige Freude wieder empfinden als sich ein „Rockstar“ in die Nähe meines Zeltes verirrte. Im Heute könnte wer auch immer an meine Hotelzimmertüre klopfen oder an mir vorbei flanieren – es würde mich nicht weiter berühren. Nennt man das Abgebrühtheit? Womöglich. Vermutlich liegt es aber auch daran, dass zu viel Kultur im Spiel ist und zu wenig Unmittelbarkeit. Man hat schon zu viel gehört und zu viel gesehen. Man vergleicht zu viel, analysiert zu ausführlich und lässt zu wenig im Moment wirklich und ungefiltert zu.
Manchmal wäre ich doch noch gerne der junge Erwachsene im einfachen Zelt. Nach dem Wochenende in Saalfelden verfestigt sich aber die Erkenntnis, dass sich dieser irgendwo verkrochen hat und nur ganz kurz heraus linst, wenn man etwa einer Person wie Mira Lu Kovacs gegenüber sitzt. Dann aber gerät die Kultur- und Vergleich-Maschinerie sofort wieder in Bewegung. Das wird sich wohl auch nach meiner Rückkehr aus Saalfelden nicht ändern.
Titelbild: (c) Matthias Heschl/Jazzfestival Saalfelden