In letzter Zeit habe einige Männer Grenzen überschritten. Vornehmlich waren das weiße, mächtige Männer. Sie nutzten ihre Machtposition um Frauen sexuell zu belästigen oder ihnen auf sonstige Weise zu nahe zu kommen.
Grenzen schaffen Unterschiede, Identitäten und Entitäten. Was „Ich“ ist, ist nicht „Du.“ Wir können uns aber treffen. In einem konstruieren Raum des „Wir“. In diesem herrscht Übereinstimmung darüber, was dieses „Wir“ ausmacht. In diesem Raum lassen wir womöglich auch das Gegenüber körperliche „Grenzen“ überschreiten. Zwei Menschen kommen sich näher, haben Sex.
Die gegenwärtige „MeToo“-Bewegung geht von der Prämisse aus, dass es einen Aggressor gibt, der einen möglichen, gemeinsam konstruierten und definierten Raum auf der Basis von Respekt und Einvernehmlichkeit gefährdet oder erst gar nicht anerkennt. Verantwortlich dafür gemacht werden mangelnder Respekt oder gar Frauenverachtung. Letzteres allein schon deshalb, weil der Aggressor in der Debatte überwiegend männlich ist. Der männliche Trieb scheint zielgerichtet, schonungslos und ignoriert Grenzen, um zum „Ziel“ zu gelangen.
Einen solchen Mann beschreibt die isländische Künstlerin Björk. Während der Dreharbeiten für den bisher einzigen Film, an dem sie schauspielerisch beteiligt war, sei ihr dieser mehrfach zu nahe gekommen. Eines Nachts sei er über den Balkon in ihr Zimmer geklettert, mit eindeutigen sexuellen Absichten. Sie habe gerade noch in das Zimmer eines ihrer Freunde flüchten können. Grenzen konnte dieser Regisseur generell keine akzeptieren. Angesprochen auf unerwünschte Berührungen zertrümmerte er wutentbrannt nach den Schilderungen der Sängerin einen Stuhl.
Nun kann man Björk durchaus als selbstbewusste, selbstbestimmte Frau beschreiben. Trotzdem hat sie laut ihren eigenen Aussagen zwei Monate lang geschwiegen, ehe sie die ungewollten Berührungen thematisierte. Für sie ist klar, dass die „MeToo“ Bewegung Frauen dazu ermutigt ihre Geschichte zu erzählen, die bisher strukturell unterdrückt wurde. Diese Struktur wird in der öffentlichen Debatte immer wieder als Patriarchat bezeichnet.
Die Rückschlüsse wären also klar. „MeToo“ bringt Diskurse und Narrative zum Vorschein, die bisher kein Gehör fanden oder schlicht und einfach nicht existierten. Außerdem gelte es „Raum“ einzufordern. Raum für sich. Raum für die eigene Identität. Natürlich aber auch für einen Raum, in dem man sich einvernehmlich, ohne Hierarchie und respektvoll begegnen kann.
Mancherort flammt in diesem Kontext auch wieder die Ablehnung der Pornographie auf. Diese verleite Männer zum Teil zu ihrem aggressiven, respektlosen und „zielgerichteten“ Verhalten, das Grenzen überschreitet oder schlichtweg ignoriert. Das mag durchaus eine plausible Hypothese sein. Ignoriert wird dabei aber auch, dass Pornographie nicht nur neues Begehren schafft und Verhalten steuert, sondern auch ein Archiv der sexuellen Wünsche ist, die im Alltag nicht oder kaum ausgelebt werden.
Womöglich gerät der berechtigte und wichtige Wunsch nach einem „Raum“, der von gegenseitigem Respekt getragen wird, damit in Konflikt. Sexualität kennt auch Spielarten der Unterwerfung und der Dominanz, sowohl auf männlicher als auch auf weiblicher Seite. Darüber hinaus sind erste vom Begehren getragene Annäherungen oft prekär. Die Grenzen des Gegenüber sind nicht immer bekannt, ein gezielter Vorstoß zur Herstellung von Nähe kann auch als unzulässige und unerwünschte Grenzüberschreitung erlebt werden. Wirkliche Einvernehmlichkeit lässt sich oft erst in späteren Dialogen herstellen, die es gar nicht geben würde, wenn nicht jemand den „ersten Schritt“ gemacht hätte und bei diesem womöglich dezent Grenzen überschritten hätte.
Das alles rechtfertigt in keinem Fall das Verhalten von mächtigen Männern, die ihre Machtposition benutzten um Frauen sexuell gefügig zu machen und deren Persönlichkeit und Grenzen links liegen lassen. Aber es zeigt womöglich die Grenzen der nur allzu schönen Utopie auf, in der wir uns alle mit Respekt, Achtung und ohne wie auch immer geartete Hierarchien begegnen. In dieser Vorstellung würden wir alle stets rational handeln, gäben irrationalen sexuellen Wünschen keinen Platz und setzten immer und überall auf Konsens.
Natürlich bleibt ein eindeutiges „Nein“ ein eindeutiges Nein, egal von welcher Seite es ausgesprochen wird. Das „Nein“ ist der klarste Begriff um eine unerwünschte Grenzüberschreitung zu benennen und bestenfalls zu unterbinden. Doch die Situation ist komplexer. Wissen wir wirklich was wir wollen, wünschen und begehren? Kann jeder von uns klar benennen, welche Fantasien er ausleben möchte und welche unterdrückt werden müssen, da sie wenig salonfähig und mit einem bürgerlichen Leben nicht zu vereinbaren wären? Kann er oder sie aufgrund der Tatsache, dass es im „Bewusstseins-Untergrund“ brodelt, ausschließen, dass im rationalen Handeln und Denken nicht auch irgendwann das Irrationale und Triebhafte hervorbricht und diese damit verbundene Handlung zu unerwünschten Grenzüberschreitungen führt?
Opferschutz ist wichtig. Noch wichtiger ist es, dass Opfer über ihre Erlebnisse sprechen und eine damit verbundene Debatte über sexuelle Belästigung und Grenzüberschreitungen geführt wird. Problematischer ist hingegen schon die moralische Komponente die damit einhergeht. „Grenzüberschreiter“ werden zu Fall gebracht und im besten Fall an weiteren unerwünschten Taten gehindert. Das ist gut und richtig so. Im Umfeld der „MeToo“ Bewegung gibt es aber zweifellos auch Personen, die daraus eine Position der eigenen moralischen Überlegenheit ableiten. Ganz so, als wäre man selbst zutiefst rational, wüsste genau Bescheid über das eigene Begehren und über jeweilige Grenzen.
Wir alle sind potentiell „Täter“. Unsere Erziehung, unsere Prägung und unsere Bildung hindern uns überwiegend daran es zu werden. Wer kann aber sagen, dass er oder sie nicht womöglich Machtstrukturen benutzen würde, um ungelebte sexuelle Wünsche zu verwirklichen? Wir müssen eine sachliche Debatte führen, jenseits der Entrüstung und der moralischen Einfärbung. Dann werden wir es unter Umständen auch schaffen zu verbindlichen, lebbaren und realistischen Grenzen zu gelangen, die einen Zwischenraum hervorbringen, in dem wir uns so begegnen können, wie wir wirklich sind: Nicht immer rational, manchmal auch triebhaft und „zielgerichtet“. Aber immer von einem Grundrespekt dem Anderen gegenüber getragen.
Titelbild: (c) Heiko Wruck, flickr.com