Dieser Text ist der 111. Teil einer Kolumnen-Serie namens „Kleingeist und Größenwahn“. Geschrieben werden diese Texte, wöchentlich wechselnd, von Markus Stegmayr und mir. Zwei Autoren, zwei Gehirne, zwei Herzen, zwei Weltsichten, zwei komplett unterschiedliche Schreibstile. In der letzten Woche veröffentlichte Markus einen Text mit dem recht provokanten Titel „Bitte schickt mir nicht mehr unaufgefordert CDs zu…„. Provokant war diese Überschrift jedoch nur aus einem Grund. Markus Stegmayr sieht sich selbst als Musikkritiker und sein Umfeld tut es ihm gleich. Wäre Markus Briefträger, Firmenchef oder Buchhalter, hätte sich niemand über seinen Text, inklusive provokanter Headline, beschwert. Im konkreten Fall hat es sich jedoch anders zugetragen.
Da draußen, überall auf der Welt, gibt es Musiker, die auf eines hoffen, auf ihren großen Durchbruch. Damit dieser gelingt, braucht es Aufmerksamkeit. Da man in bekannten Musikmagazinen wie dem Rolling Stone, ohne Geld und Beziehungen, nicht so einfach unterkommt und auch „normale“ Systemzeitungen gar nicht so leicht „erreichbar“ sind, versuchen viele kleinere und größere Bands über Blogs, Indie-Magazine oder andere Herzensprojekte zu verstärkter Sichtbarkeit zu kommen. Der Name Markus Stegmayr ist in Tirol, zumindest im Raum Innsbruck, kein unbekannter mehr. Dank unglaublicher Hartnäckigkeit, Kontinuität und einer enormen quantitativen Schreibleistung, hat Markus Stegmayr in den letzten drei Jahren selbst an Sichtbarkeit gewonnen und vor allem für provokante Texte, ordentlich viel Aufmerksamkeit bekommen. Er hat, was so mancher Musiker sich wünscht.
Mit dieser erhöhten Sichtbarkeit gehen jedoch nicht nur angenehme Effekte einher, wie beispielsweise gratis CDs, Einladungen zu Konzerten und Festivals oder mehrfache Buchungen als Auftragsschreiber. Nein. Mit der erhöhten Sichtbarkeit geht auch Verantwortung einher. Wer sich einen Namen als Musikkritiker aufgebaut hat, der bekommt eben CDs zugeschickt und wird zu Konzerten eingeladen. Aus dem einfachen Grund, weil Menschen Hoffnungen in diesen Kritiker setzen. Sie hoffen auf die Gunst, die honorierende Erwähnung, das überschwängliche Lob. Sie wollen entdeckt werden, am besten als wertvollster Geheimtipp des Jahres. Dabei ist es sogar irrelevant, ob dieser Geheimtipp nun im Rolling Stone oder in einem vergleichsweise mickrigen Online-Feuilleton gegeben wird. Jede Erwähnung ist wertvoll.
Markus Stegmayr hat nun zum wiederholten Male einen Text veröffentlicht, dem zumindest ein verstärktes Provokationspotential unterstellt werden kann. Und es hat wieder funktioniert. Der Text wurde vier bis fünf Mal so oft angeklickt, wie andere Texte auf AFEU.at. Wenn man einem Texter, und sei es „nur“ ein Musikkritiker, nun unterstellt, in gewisser Hinsicht künstlerisch tätig zu sein, so könnte man behaupten, dass es dem Schreiber nicht viel anders als dem Musiker ergeht. Beide wünschen sich Aufmerksamkeit. „Bitte schickt mir nicht mehr unaufgefordert CDs zu…“ wurde scharf kritisiert. Wütende Musiker haben sich gemeldet, teilweise per Mail, teilweise in privaten Chats und teilweise direkt bei den Kommentaren unter dem Artikel. Aussagen wie „Passt, dann bin ich mal gespannt wie musikalisch relevant dieser Weblog in Zukunft sein wird. Ich habe jedenfalls das letzte Mal auf einen eurer Artikel geklickt, alles Gute für die Zukunft!“ wurden hier getätigt. Aussagen, die mir, als Co-Autor der Kolumnen-Serie „Kleingeist und Größenwahn“ und als Gründer dieses Online-Feuilletons richtiggehend in der Seele weh tun.
Ja, Markus Stegmayr hat einen Hang zur Provokation. Und jeder gehässige, verachtende Kommentar erhöht nicht nur die Sichtbarkeit der provokanten Texte, sondern bestätigt diesen Weg. Ja, Markus Stegmayr hat mit seinem Text Musiker vor den Kopf gestoßen, die darauf gehofft hatten, Aufmerksamkeit zu kommen. Ja, er hat damit durchaus Verantwortung abgegeben. Aber können wir wirklich dem einen zur Seite springen und den anderen verurteilen, wo doch beide – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – nur eines tun, daran zu arbeiten, gesehen und gehört zu werden? Ich bin mir da nicht ganz sicher. Für meinen Teil kann ich nur eines sagen. Das ALPENFEUILLETON, oder kurz gesagt AFEU.at, ist kein Markus Stegmayr Blog. Hier schreiben auch andere Autoren, andere Gehirne, andere Herzen, mit anderen Weltsichten und anderen Schreibstilen. Sie schreiben (meist) etwas leiser, weniger provokant, aber nicht minder engagiert. Selbst der oft so laute Markus Stegmayr veröffentlicht hier auf diesem Online-Feuilleton sanfte Texte, die wunderbare Musik-Kolumne „Plattenzeit“ zum Beispiel. Aber diese Texte wurden wohl in etwa gleich oft gelesen, wie die unaufgeforderten CDs gehört …
Schade. Denn durch das Ausschlussverfahren wird man meist einseitig blind. Und das kann das Gleichgewicht gefährden und einen leicht aus der Balance bringen. „Ich habe genug gehört und genug Konzerte gesehen“, mögen die Worte eines nach Aufmerksamkeit (oder Ruhe?) schreienden Musikkritikers sein. „Ich habe genug gelesen und genug Artikel (von euch) gesehen“, dürfen nicht die Worte unserer Leser sein. Denn spätestens im Sommer 2018 steht AFEU.at auf komplett neuen Beinen. Es wäre schade, wenn ein provokanter Text eines Redakteurs den Lesedurst für immer gestillt hätte.
Hier geht es zur vorherigen Folge von "Kleingeist und Größenwahn".