Der Tiroler von 2020 trägt eine amerikanische Baseballkappe und keinen Tyrolerhut! Dennoch will er ein waschechter Tyroler sein, dasselbe gilt natürlich auch für die Tyrolerin. Er/Sie ist kernig, wertkonservativ, zieht die Lederhose vielleicht noch bei Prozessionen an, kann nicht mehr jodeln, ist jedoch sportlich jederzeit und auf jedem Berg zu Außergewöhnlichem fähig, insbesondere beim Schifahren.
Worauf begründet der Tiroler sein weit überzogenes Selbstbewußtsein, etwas Besonderes, weil eben ein solcher zu sein? Den Mythos „Tiroler“ zu bemühen, ohne den Mythos „Hofer“ zu berücksichtigen, ist unmöglich. Dieses Heldenklischee wird alle 25 Jahre mit großer öffentlich finanzierter Unterstützung auf die Bühne gebracht und gefeiert, dabei wird geflissentlich übersehen, dass die „Tarroler“ nicht nur herzhaft verteidigt, sondern während der Napoleonischen Kriege auch in Bayern eingefallen und dabei nicht gerade zimperlich vorgegangen sind.
Wir sind dann gleich beim zweiten Mythos, dem des „wilden Hundes“, der ohne Rücksicht auf Verluste mit hoher Geschwindigkeit jeden Berg herunterrast, mag dieser auch noch so steil sein. Zur Wiederherstellung der Ehre des Landes – am Bergisel nur barfuß oder mit Schuhen rasend den Hang heruntertobend – hat er solche heute um Schi, Rodel, Radl erweitert und kämpft immer noch, nun für Preisgeld, gegen Bayern, Franzosen, Italiener und den Rest der Welt.
Ansonsten ist der heutige Tiroler aber zum Bewegungsmuffel mutiert und fährt jeden Meter möglichst mit dem Auto, am liebsten gleich in die Sporthalle hinein, wo er dann im Kampf gegen andere und sein Bauchfett die erforderlichen Kilometer herunterspult. Wer aber die ehemals „wirklich echten Tyroler“ sehen will, muss historische Fotos von den Tyrolern und Tyrolerinnen aus unseren Seitentälern (den heutigen Tourismushochburgen) anschauen, bei denen sich der Kampf um’s Überleben hart mit Furchen in die Gesichter und Hände eingegraben hatte.
Zum Glück leben wir heute in einem wohlstandsverwöhnten Land, wissen das kaum zu schätzen und jammern bei jeder Gelegenheit, sollte einmal eine Kleinigkeit nicht passen. Diesen Wohlstand verdanken wir zu einem nicht unbeträchtlichen Teil unseren Nachbarn, den Bayern, die als „Wiedergutmachung“ für die Besetzung Tyrols von 1805 – 1814 seit Jahrzehnten unsere wichtigsten Gäste sind. Fallen die Bayern als solche aus, wie bei der Coronakrise, ist schnell einmal „Schluss mit den alten Feindbildern“ und wir bitten sie inständig darum, möglichst bald wieder zu kommen.
Mehrmals im 19. und 20. Jahrhundert gab es in Tirol große wirtschaftsbedingte Auswanderungswellen von Menschen, die hier keine Zukunft mehr für sich und ihre Familien sahen. Trotz der Ereignisse von Ischgl oder St. Anton dürfen wir nicht vergessen, was die Pioniere im Tiroler Seilbahntourismus für unser Land und damit auch für uns geleistet haben. Die Auswüchse des Après-Ski-Tourismus in Ischgl und anderen Orten sind bestimmt nicht das, was sie sich gewünscht hätten – dort mischen sich gierige Abzocke und hemmungsloser Konsum zu einem grauenhaften Cocktail. Vielleicht führt die unerwünschte negative internationale Publicity für Ischgl als wesentlicher Verbreiter des Corona-Virus zu entsprechender Einsicht – hin zu einem für alle Seiten würdevolleren Tourismus. Allerdings muss man diesbezüglich sehr skeptisch sein.
Das „wilde Volk in den Bergen“ hat nicht seit Kupfersteinzeit-Ötzi eine über Jahrtausende von außen genetisch unbeeinflusste Bevölkerung, die bis vor drei Generationen überwiegend bäuerlich war, sondern ist eine interessante Mischung aus vielen Völkern, die entweder schon lange Jahrhunderte hier ansässig waren, durchzogen oder sich neu ansiedelten. Solche waren Räter, Kelten, Römer, Germanen und andere. Die Tiroler von heute sind Allerweltstypen, fallen im Grunde weder besonders positiv noch negativ in der Menschheitsgeschichte auf – deshalb gilt: „Bisch a Tiroler, bisch a Mensch – bisch koaner, bisch a oaner!“