Plötzlich funktioniert es, das Grundeinkommen! Überall gibt es verbale Überbrückungshilfen.
Die Wirtschaft und ihr nachgeordneter Staat haben nämlich kapiert, dass sie auf unser Wohlwollen als Konsumenten angewiesen sind. Jetzt, wo vielen die Kauflust vergangen ist, klingt der der alte Proleten-Spruch aus dem vorigen Jahrhundert besonders gut in den Ohren der Volkswirtinnen: „Wenn die mir keine Kohle geben, kaufe ich ihnen ihren Scheiß nicht ab!“
Ein paar Tage lang war die Welt im Gleichgewicht. Wie an der Engstelle der Sanduhr haben sich Kapital und Zeit, Arbeit und Lebenssinn, Glück des Individuums und Wohlbefinden der Gesellschaft die Waage gehalten. Ein bisschen erinnerte diese lärmlose Zeit der Pandemie an die antike Fabel vom Goldenen Zeitalter, wo bekanntlich der Wolf ungeniert neben den Lämmern liegt.
Aber jetzt arbeiten wieder alle an der Verbreitung des Konsums, den sie gerade mühsam eingedämmt hatten. Mit allen Tricks wird versucht, das Schöne, Positive, ja geradezu Menschliche des Konsumierens hervorzuheben. Dabei kann von der Spitze der Konsumpyramide ausgehend bestens zeigen, wie es am Fundament des Wirtschaftslebens zugeht.
Als Spitze der Verzehr- und Verbrauchsgesellschaft fungiert die Kreuzschifffahrt. Befeuert von literarischen Mythen wie dem Narrenschiff, wo ein gewisser Bschließmayer als Oskar Werner ein rollendes „R“ in die Welt flimmern lassen konnte, fühlen sich alle in einer lebensentscheidenden Phase, wenn sie das Schiff betreten haben.
Jetzt kommt die Wasserlinie ins Spiel! Diese ergibt sich aus dem Aufeinandertreffen von Rumpf und Wasser und trennt das Schiff in einen sichtbaren und unsichtbaren Teil.
Beim Konsum wird nur der sichtbare oberirdische Teil gezeigt, die Kabinen, Saloons, Pools und Kletterwände. Das Unterwässrige bleibt „unterirdisch“ und soll möglichst nicht angesprochen werden. Die zähklebrigen Treibstoffe, die Verklappungsschächte und vor allem die Menschen, die als Sklaven aus aller Welt zusammengetrieben ohne Tageslicht ihre Arbeitsjahre verbringen.
Die Konsumentenschaft vom Oberdeck darf davon nichts wissen, die Reise bucht sie beim Discounter, während sie sich bargeldlos über billiges Fleisch freut. Die Monstrosität der Kabinentrakte tut die Sorglos-Community mit dem Satz ab, dass der schwimmende Gemeindebau immerhin besser im Jahreskalender liege als die verdichtete Wohnmasse in der Vorstadt.
Und das Wichtigste: Fünftausend Menschen sehen einander zu beim Urlaub machen, denn das ist das Wichtigste beim Konsum, dass man dabei gesehen und gehört wird.
So kaufen sich viele einen Rasenmäher, damit sie gehört werden, wie sie seine Leistung konsumieren. Menschen ohne Genitalien hüpfen auf ein Motorrad, um den Anwohnern zu zeigen, dass etwas Lautes zwischen den Beinen hängt, wenn sie Gas geben.
Aber auch triviale Dinge wie das Feuchttuch haben ihre unterirdischen Arbeitssklaven, die am Klärwerk die Vlies-Klumpen aus dem Rührwerk fuzzeln.
Und hat man nicht einen Hund, damit alle hintennach an der Wurst-Straße sehen können, wo man heute spaziert ist?
Und hat man nicht manchmal auch nur deshalb Kinder, damit das Display voll von Selfies ist, die man anderen unter die Nase hält? (Manche füllen damit auch Glossen auf.)
Momentan hält sich zumindest die Kreuzschifffahrt zurück, weil einfach niemand auf einen Quarantäne-Dampfer steigen will. Aber an den Stränden stellt man schon die gläsernen Boxen auf, in die man sich legen kann, gut gesichtet von den Miturlaubern, aber gesichert gegen die Aerosole der nächsten Böe.
Vielleicht wird in Zukunft der Beipackzettel der gekauften Dinge besser gelesen und man achtet auf die Wasserlinie: Wo verläuft diese unheimliche Markierung, an der das Gute in das Böse überwechselt?
Literarisch ist diese „Schattenlinie“ wundersam angesprochen in Joseph Conrads Roman „The Shadow Line“ (1917).