Die DDR ist zwar offiziell seit dreißig Jahren tot, aber ein Witz hat sie unsterblich gemacht. „Wenn du mit jemandem redest, hockt unsichtbar die Krake Stasi am Tisch!“
Damit reagieren auch Jahrzehnte nach dieser dramaturgisch einwandfreien Sitzordnung Angst, Gelächter und Irreführung des unsichtbaren Dritten. Denn selbstverständlich muss man bei diesem aufgezwungenen Spiel die Sätze so anlegen, dass die Behörde nichts mitbekommt.
In der BRD gibt es den gleichen Witz, freilich sagte man D-Mark zur Stasi. Und die D-Mark hat vor der Mauer wohl mindestens so viele Menschen ins Unglück gestürzt wie hinter der Mauer die Stasi.
Nun fragt man sich im Tirolerischen Untergrund, denn die offiziellen Tischhocker sind ja von dieser Überlegung ausgenommen, wer wohl in Tirol unsichtbar am Tisch sitzt. Die Antwort verblüfft: Der Tourismus!
Und tatsächlich: Sollten sich aus Versehen zwei Einheimische finden, die etwas bereden wollen, setzt sich sofort der Tourismus dazu und beginnt zu jammern. Alles im Lockdown, die Betten leer, die Lager voll, die Schigebiete noch immer nicht zusammengeschlossen, der Flughafen noch immer nicht für den Nachtbetrieb geöffnet, keine Köche, mieses Personal.
Wer glaubt, in der Nächtigungs-Delle käme der Tourismus ein wenig zur Besinnung, der irrt. Jetzt muss der Ausbau beschleunigt werden, Tirol muss ein einziges Fünfsternehotel sein, sonst kommt niemand.
Unterstützt werden die Jammereien des unsichtbaren Mithockers im Witz von der Einheitszeitung, wie das Touristische Tagblatt genannt wird. Ob im Aufmacher, in der Glosse, in der Chronik oder bei Todesanzeigen, immer geht es um den Tourismus. Selbst aus der Kultur wird nur berichtet, wenn eine touristisches Stück aufgeführt wird, was meist auf einen Felix hinausläuft. Oder ein Tesla-fahrender Zukunftsforscher sagt, dass die Zeit des Diesels noch nicht vorbei sein darf, weil ihn vor allem die gutbetuchten Wintergäste fahren. Diese Diesel-Meldung läuft ebenfalls unter Kultur, weil sie ja die kulturelle Haltung der Wintergäste beschreibt.
Die verstörten Einheimischen hocken also gespielt fröhlich am Tisch, um die Tischkrake nicht zu vergrämen. Die Sätze sind verschlüsselt schön, damit sie vom Mitesser für einen „leckeren“ Teil der Speisekarte gehalten werden.
Unter den schönen Sätzen vom Fressen, Saufen, Schifahren und Vögeln sind freilich interessante Überlegungen eingeflochten.
Der Tourismus verbraucht 100 % der Landesfläche, weil „der Tourist“ im Sinne einer Emission überall ins Land eindringt und dabei keinen Unterschied zwischen öffentlicher und privater Fläche macht.
Den Emissionen im Tourismus ist auch der Lärm zuzurechnen. Wenn eine Maschine in Innsbruck landet, sitzen vielleicht 200 Personen drin, 200.000 werden akustisch rundum belästigt und etwa 20 kassieren in Ischgl jene Kohle, die sie ihrerseits bei nächster Gelegenheit in Lärm anlegen.
Die Krake am Tisch spitzt nicht einmal die Ohren, sie weiß, dass alle dem Tourismus unterworfen sind. Ab und zu sagt jemand wie im Stasi-Witz: Ich habe alles richtig gemacht. Im Fasching geht die Tourismus-Krake gerne als Stasi-General Mielke und ruft: Ich liebe euch doch alle!
STICHPUNKT 20|24, verfasst am 29. September 2020