AFEU: Mit dem 23. Mai 1915 kommt der Krieg auch unmittelbar nach Tirol. Wie überraschend war die Kriegserklärung Italiens an Österreich für die Bevölkerung Tirols?
Hans Karl Peterlini: Der Informationsstand der Bevölkerung lässt sich für die damalige Zeit schwer abschätzen. Die Kriegserklärung hat ja, obwohl sie in der Luft lag, auch die militärischen Entscheidungsträger überrumpelt, man hat zwar irgendwie damit gerechnet, sie aber beinahe ohnmächtig hingenommen. Außerdem darf man nicht vergessen, dass der Krieg ja schon ein Jahr im Gang war, die wehrfähigen Männer waren alle schon an der schrecklichen Front in Galizien. Dass praktisch erst im allerletzten Moment der Landsturm zu Verteidigung der nun bedrohten Südgrenzen Tirols mobilisiert werden musste, als praktisch Kinder und Alte an die Front berufen wurden, ist doch ein deutlicher Hinweis, dass alle überrumpelt waren. Das heißt aber nicht, dass es ganz überraschend kam – eher so, als würde sich eine unheilvolle Ahnung plötzlich verwirklichen.
AFEU: Wie wurde die Kriegserklärung in Welschtirol aufgenommen bzw. in Ladinien? Konnte man einen regionalen Schnitt zwischen Italienbefürwortern und Österreichbefürworten ziehen/erkennen?
Peterlini: In Welschtirol ging der Riss oft mitten durch Familien, da gab es die „austriacanti“ und die „italofili“. In der einfachen Bevölkerung schlug das Herz noch für den Kaiser, aber viele waren auch bitter enttäuscht, denn die Welschtiroler wurden als erste nach Galizien geschickt. Nach der Kriegserklärung waren sie für das österreichische Militärregime potentielle Überläufer und Verräter, es wurde sehr hart vorgegangen, ganz Landstriche evakuiert in österreichische Lager mit menschenunwürdigen Lebensbedingungen. Die ladinische Bevölkerung war sicher bruchloser als die italienische noch in einer gemeinsamen Tiroler Identität aufgehoben, Tendenzen in die eine oder andere Richtung dürfte es auch da gegeben haben, aber weniger deutlich und trennscharf.. Die italienische Bevölkerung wurde von den extremen Nationalismen auf beiden Seiten viel stärker geteilt, allerdings war das Trentino sehr ländlich und bäuerlich, der Irredentismus war eher eine Bewegung von Intellektuellen und Städtern.
AFEU: Wie weit verbreitet ist das Wissen um die Geschehnisse des 23. Mai 1915 in Südtirol und im Trentino bzw. gibt es ein Bewusstsein für das Datum? Weiß die Bevölkerung davon? Wenn ja, wie wird die Kriegserklärung bewertet?
Peterlini: Der Kriegseintritt Italiens ist doch immer noch Stoff für Geschichtsunterricht von der Grundschule an, mit leider noch stark auseinanderklaffenden Erzählstrukturen. Laut einer italienischen Geschichtstradierung war es ein notwendiger Krieg, um die unerlösten Gebiete, die terra irredenta, zu erobern, auf deutscher Seite hält sich stark das Verratsmotiv, dass Italien seinem Bündnispartner Österreich in den Rücken gefallen ist – das ist sehr problematisch, weil es in das große Stereotyp der unzuverlässigen und hinterlistigen Italiener eingeht, das wie jedes Stereotyp vergiftend für gute Beziehungen ist. Rein formal war Österreich nur Bündnispartner im Falle eines Verteidigungskrieges, Österreich war aber 1914 Aggressor.
AFEU: Wie sehr hat dieses Ereignis (Kriegserklärung) das Verhältnis zwischen deutscher, italienischer und ladinischer Bevölkerung beeinflusst oder verändert? Hat es vor der Kriegserklärung schon „Gräben“ zwischen den Bevölkerungsschichten gegeben oder sind dadurch solche entstanden? Oder sind die Bevölkerungsgruppen zusammengeschweißt worden?
Peterlini: Die Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts, die ja auch mehrere Kriege zwischen Italien und Österreich zur Folge hat, hat sich ab 1848 spürbar zwischen die Sprachgruppen in Tirol geschoben, vor allem zwischen deutsch und italienisch. Es gab gehässige Kampagne auf beiden Seiten, Germanisierungsvorstöße von deutscher Seite, irredentische Befreiungsbewegungen auf italiensicher Seite.
AFEU: Wie nehmen Sie die jetzige Situation von Trentino-Südtirol wahr?
Peterlini: Pauschal lässt sich das nicht abhandeln. Im Trentino ist ein neues Interesse an der Europaregion spürbar, aber das ist oft noch wenig konkret und lässt sich nicht an den Welschtiroler Schützenkompanien messen, die eher noch auf die alte k. u. k.-Nostalgie rekurrieren. Es gibt aber zwischen den Ländern politisch weitgehend entspannte Verhältnisse und eine interessierte Achse Innsbruck-Trient teilweise über Südtirol hinweg, das sich lange etwas selbstgefällig verhalten hat, auch das ist aber in Öffnung begriffen.
AFEU: Wie Sehen Sie die Situation für die Italienische Bevölkerung in Südtirol? Viele Italiener sehen sich als Minderheit im eigenen Land. Kann man von einer Identitätskrise sprechen?
Peterlini: Ja, die besseren Beziehungen zwischen Tirol und Südtirol mit dem Trentino entlasten nicht davon, die Beziehungen zwischen deutschsprachiger Mehrheit in Südtirol und italienischsprachiger Minderheit zu bedenken und positiver zu gestalten. Es gibt auch da Öffnungstendenzen auf italienischer Seite in wachsender Zustimmung zur Südtirol-Autonomie, wo diese nicht kleinkariert gegen sie verwendet wird. Es gibt zugleich aber auch Rückzugstendenzen auf deutschsprachiger Seite gegenüber dem Autonomiekonsens, genährt vor allem von „Nur-fort-von-diesem-Staat“-Sorgen seit den jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrisen. Diese trifft zwar alle gleichermaßen und könnte auch die italienische Bevölkerung mit ins Boot nehmen, aber es droht auch die seltsame Situation, dass sich immer mehr deutschsprachige Südtiroler emotional von der Autonomie abnabeln, während die Italiener gerade dabei sind, sich mit dieser anzufreunden. Das ist im Auge zu behalten, damit nicht neue Fronten entstehen, wo sie eigentlich abgebaut werden könnten. Der Autonomie-Konvent, der von der neuen politischen Führung in Südtirol angegangen wird, ist da sehr wichtig und auch eine große Chance.
Vielen Dank für das Gespräch
Hans Karl Peterlini, geboren 1961 in Bozen. aufgewachsen in Neumarkt. Kulturwissenschaftler, Journalist und Autor zahlreicher Bücher und Essays zur Südtiroler Zeitgeschichte und Gegenwart.
Weitere Inhalte zum Südtirol Schwerpunkt: Kommentar, Bildergalerie, Historischer Text Teil 1, Teil 2
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